Digitalisierung: „Fragt nicht, was digital werden muss. Fragt, was analog bleiben kann.“
Noch Anfang letzten Jahres wollten große Teile des inhabergeführten Handels nichts mehr von den stark strapazierten Buzzwords „Digitale Transformation“, „Digitalisierung“ oder „Big Data“ hören. Keine Zeit, kein Budget, fehlendes Wissen und es ging ja auch so. Irgendwie. Doch dann kam COVID-19 und die Versäumnisse rächten sich – schnell und massiv. Nein, nicht jede*r Händler*in, die/der heute vor großen Problemen steht, hat alles falsch gemacht. Doch leider haben viele die Augen vor dem Strukturwandel, dem der Handel unterliegt, ganz oder teilweise verschlossen. Was braucht es also für die Digitalisierung im Handel?
Ich wurde Ende letzten Jahres in einem Interview für hrInfo gefragt, ob stationäre Händler noch ganz ohne digitale Technologien überleben könnten. Ich habe mit einem „souveränen Jein“ geantwortet. ;-)
Unter sehr, sehr engen Voraussetzungen kann das meiner Meinung nach gut gehen. Dafür muss die/der Händler*in lokal so viele treue und zahlungskräftige Fans haben und mit diesen in sehr engem Kontakt (vor allem emotional) stehen, dann mag es für ein kleines, kostenoptimiertes Ladenkonzept gehen. Alle anderen zwingt der Wandel dazu, sich in weiten Teilen zu digitalisieren.
Das hört sich nun nach schlimmem Druck und Unfreiwilligkeit an. Das sollte es aber nicht sein. Denn in der Digitalisierung steckt auch jede Menge Potenzial. Schlanke, automatisierte Prozesse entlasten von Routineaufgaben, digitale Kommunikationswege erleichtern die Pflege der Kundenbeziehungen und digitale Technologien können neue Geschäftsfelder erschließen. Um nur ein paar Aspekte zu nennen. Je nach Unternehmen ergeben sich verschiedene Schwerpunkte und Möglichkeiten.
Die Anpassung des eigenen Unternehmens an die veränderten Rahmenbedingungen berührt alle Bereiche und Mitarbeitende. Häufig wird dabei von einem neuen oder digitalen „Mindset“ gesprochen, das Einzug halten soll.
Im Deutschen haben wir für den Begriff verschiedene Ausprägungen: Denkweise, Einstellung, Haltung oder auch Mentalität. Gemeint ist, dass sowohl dynamische, zukunftsgerichtete als auch konservative, bewahrende Denk- und Handlungsstrukturen gelebt werden. In vielen Unternehmen haben die letztgenannten Kräfte oftmals noch die Oberhand, was zum bekannten „Das haben wir schon immer so gemacht“ führt und notwendige Entwicklungen blockiert.
Mit einem „neuen Mindset“ meine ich, dass es nicht mehr darum geht zu überlegen, welche der bisherigen meist analogen Prozesse denn digitalisiert werden sollten. Ich verstehe darunter, dass uns allen klar ist, dass das Digitale der wirtschaftliche Standard ist und wir gut begründen müssen, warum etwas analog bleiben sollte.
Sascha Lobo hat dies in seiner sehenswerten Rede „Zur digitalen Lage der Nation“ bei der diesjährigen re:publica sehr schön formuliert: „Fragt nicht, was digital werden muss. Fragt, was analog bleiben kann.“
Buzzwords #2: Agilität
Die erwähnten zukunftsgerichteten Strukturen werden auch häufig als „agil“ bezeichnet und sind überlebenswichtig. Sie sollen beweglich, anpassbar und dynamisch sein und so sicherstellen, dass sich das Unternehmen ständig weiterentwickeln und an veränderte Parameter anpassen kann. In Unternehmen bedeutet dies
- technische Möglichkeiten zu kennen und bereit zu sein, sich damit auseinanderzusetzen,
- auf allen Hierarchieebenen kollaborativ, offen und transparent zu arbeiten,
- Kreativität zu fördern und auszuleben, persönlich ebenso wie bei Prozessen und Geschäftsmodellen und
- eigenverantwortliches Handeln zuzulassen und zu fördern.
Auch wenn man das Wort „agil“ nicht mehr hören kann, was sich dahinter verbirgt, ist auch entscheidend für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen.
Wie geht sie also, die Digitalisierung im Handel?
Absolute Kundenorientierung
Kein Weg führt an den Kund*innen vorbei. Meist ist das allen klar und doch treten die Kundenwünsche, -erwartungen und -verhaltensweisen zu oft in den Hintergrund. Der von vielen unserer Lesenden nicht immer geschätzte Amazon-Chef Jeff Bezos hat es 2017 so ausgedrückt: „Jeder Tag ist Tag 1“ und er meinte damit eine geradezu obsessive Ausrichtung auf die Kund*innen. Denn Tag 2 ist für Bezos Stillstand, gefolgt von Irrelevanz, qualvollem, schmerzhaftem Niedergang, gefolgt vom Tod.
Das mag man für überdramatisch oder unterkomplex halten. Es ist jedoch das eindeutige Bekenntnis zu den Kund*innen: „Kunden sind immer wunderbar, wunderbar unzufrieden, selbst wenn sie berichten glücklich zu sein und das Geschäft großartig läuft. Selbst wenn sie es noch nicht wissen, wollen Kunden etwas Besseres – und dein Verlangen, den Kunden glücklich zu machen wird dich antreiben, etwas in ihrem Namen zu erfinden.“ – Jeff Bezos
Digitale Geschäftsmodelle und Prozesse
Nie dagewesene Marktchancen, niedrige Zugangshürden in andere Geschäftsbereiche, vollständig neue Geschäftsmodelle und Umsatzchancen, hohe Automatisierung administrativer Prozesse, neue Partizipationsmöglichkeiten für Mitarbeitende und Kund*innen, Personalisierung, Individualisierung und noch vieles mehr. Entscheidend ist, dass Unternehmer*innen die Möglichkeiten erkennen und in ihrer Relevanz für das eigene Geschäft beurteilen können. Wer heute kein eigenes Innovationsmanagement hat, kann bei der Geschwindigkeit und Wichtigkeit neuer Technologien nur den Anschluss verlieren.
Das bedeutet natürlich ausdrücklich nicht, auf jeden vorbei donnernden Zug aufzuspringen. Gemeint ist, dass man sich informiert, die Innovationen und Trends im eigenen Markt und darüber hinaus erkennt, beurteilt und dann eine fundierte Entscheidung trifft, ob dies für das eigene Unternehmen relevant sein wird und ein Handeln erfordert.
Digitale Kommunikation
Wer seine Kund*innen nicht digital erreichen kann, hat ein echtes Problem, wie die Corona-Krise anschaulich gezeigt hat. Doch es geht nicht nur um den Kundenkontakt, sondern insbesondere darum, Transaktionen digital abzubilden. Von der Werbung, über Verkaufs- und Serviceaktivitäten bis hin zur Kundenbindung: kein Bereich, der heute nicht digital ist. Die digitalen Touchpoints werden immer zahlreicher und für die Kund*innen wichtiger. Unternehmen müssen sich entscheiden, an welchen sie wie für ihre Kund*innen präsent sein wollen.
Daten, Daten, Daten
Monitoring, Tracking, Analysieren, Auswerten und vor allem, die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Es war noch nie einfacher, Daten zu generieren. Doch nützen diese zunächst nichts, wenn man nicht weiß, welche Fragen man ihnen stellen muss. Einige Handelsunternehmen sind in Sachen Retail Analytics bereits spitze, andere sitzen noch auf ungehobenen Datenschätzen. Es gibt auch Händler*innen, die noch nicht einmal begonnen haben, Daten strukturiert zu erheben. Zwischen diesen Extrempunkten gibt es jede andere erdenkliche Konstellation. Es gehört heute zur Pflicht von Unternehmer*innen, sich mit Datenmodellen zu beschäftigen.
Wie verändern digitale Technologien heute Ihren Arbeitsalltag, Ihr Unternehmen? Wie beobachten und beurteilen Sie Innovationen und Trends? Wie agil ist Ihr Unternehmen? Über welche Kanäle erreichen Sie Ihre Kund*innen und wie hat sich das insbesondere in diesem Jahr verändert? Und wo sehen Sie in Ihrem Unternehmen noch Einsparpotenziale durch Automatisierungen? Ich freue mich auf Ihre Erfahrungswerte, gleich hier in den Kommentaren.
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