Lesetipp: Zukunftsstudie 2024
Zwei Zukunftsforscherinnen, Theresa Schleicher und Janine Seitz, haben mit der Zukunftsstudie 2024 ein lesenswertes Werk vorgelegt, dass ich Ihnen empfehlen möchte. Was erwartet Sie in der über 100 Seiten starken Studie?
Weniger ist mehr: Die Zukunft für den Handel ist das regenerative Wachstum
In den vergangenen zwei Jahren wurden viele Trends und nachhaltige Lösungen in der Kreislaufwirtschaft vom Handel diskutiert und ausprobiert. 73 Prozent der Händler:innen sehen heute im nachhaltigen Agieren die wichtige Zukunftsaufgabe, doch laut der Forscher:innen der Zukunftsstudie 2024 haben derzeit gerade 49 Prozent ein Nachhaltigkeitskonzept und etablierte Lösungen. Zu sehr machen wirtschaftliche Herausforderungen der Inflation und des Fachkräftemangels zu schaffen.
Auch die fehlende Fokussierung im Kontext Nachhaltigkeit erschwert es besonders für den Mittelstand. Doch mit steigenden Anforderungen der Kund:innen nach nachhaltigen Produkten wächst der Druck nach neuen Angeboten, die wirtschaftlich und planetar sinnvoll sind.
Das Auffallende: bei allen Veränderungen der Zukunft fordern Konsument:innen in erster Linie eines: Weniger. Weniger Flächen, weniger Produkte, weniger Händler.
Bei 1,3 Mrd. Lebensmittelabfällen jährlich und 5,8 Mio. Textilabfällen in der EU ist das auch nicht verwunderlich. Die Zukunft des Handels beschreibt damit eine Weiterentwicklung des quantitativen Wachstums hin zu qualitativen, fokussierten Wachstumsfeldern.
Ausgehend von gekonnter Reduzierung von Abfällen, Verpackungen, Überproduktion, hin zu der Neuentwicklung von von Anfang an zirkulär gedachten Produkten und Services, die nicht einfach nur gut recycelt werden und Ressourcen schonen, sondern Ökosysteme neu aufbauen.
Die Trends, die 2024 auf den Handel warten
1. Regenerative Geschäftsmodelle des Handels geben mehr, als sie nehmen – auch den Unternehmer:innen
Regenerative Business Models sind die nächste Stufe von nachhaltigen und zirkulären Geschäftsmodellen. Sie leisten einen Beitrag, die Folgen ihres Handelns für die Umwelt nicht nur möglichst gering zu halten, sondern im positiven Wert, den sie sogar zusätzlich schaffen. Denn schon länger geht es nicht mehr nur um den Ausgleich durch Bäume pflanzen, sondern um Ressourcen und Materialien sowie auch um eine Produktion, die Ökosysteme im Kreislauf wieder aufbaut.
Das reicht von der britischen Modemarke Sheep Inc., deren Produktionsprozesse nicht nur kein CO2 ausstoßen, sondern binden, bis hin zu Alltags- und Beautyprodukten, deren Bestandteile Ökosysteme wiederherstellen, wie beispielsweise die Sonnencreme Reef Relief, deren Inhaltsstoffe die Regeneration von Korallenriffen unterstützt.
2. Sustainable Subscriptions setzen sich als Sharing- und Abonnement-Modelle im Mainstream durch
Das Abo- und Renting-Konzept hat sich vom anfänglichen Nischenangebot zu einem Retail Trend entwickelt, der in der Breite Nachhaltigkeit, Identifikation und Qualität neu interpretiert, ohne Kund:innen Vielfalt oder dem Handel Umsatzverlust abzusprechen. Aus Hyper-Convenience wurde eine nachhaltige Konsumalternative, die auch klassische Händler nutzen.
Einer der Vorreiter ist die Kölner Kleiderei, die zusätzlich zum Verkauf von Vintagekleidung nachhaltige Mode verleiht. Das Angebot reicht von H&M, die zunehmend in ihren Flagship Stores neue Renting-Modelle ausrollen, über den saisonalen Werkzeugverleih bei Baumärkten, bis zu Entrepreneuren, wie CLOTHESfriends und der Kleiderei, die die Spielregeln der großen Händler:innen immer besser verstehen und aus der Nische kommen.
Der Einbezug der Community, die z.B. die Kleidungsstücke stellt, ist häufig zusätzlicher Erfolgsbeschleuniger.
3. Die größten Innovationen sind unverpackt und bringen eine Renaissance des Unverpackten
“Würde man alle Kartons, die aktuell in Deutschland hin- und hergeschickt werden, übereinander stapeln, käme man von der Erde bis zum Mond”, so ein Zitat der Studie. Eine Erhebung in der Zukunftsstudie auf Basis von Greenpeace zeigt, dass speziell Lebensmitteleinzelhandel und Markenhersteller in vielen Kategorien 70 bis 90 Prozent der Verpackungen einsparen können. Das gelingt durch den Einsatz von Technologie, Refill-Möglichkeiten, aber vor allem durch das Umsetzen eines komplett neuen Kaufprozesses.
Denn Innovationen der Vergangenheit scheiterten an Preis, In-Convenience und Services, die an den Kund:innen vorbeigingen. Der darauf aufsetzende Trend des Zero Waste Design umfasst einen ganzheitlichen, kreislauforientierten Ansatz von Produktdesign über Verkauf bis Rücknahme.
4. Regionaler Konsum hat nichts mit Verzicht zu tun. Die Vielfalt bereichert den regionalen Handel
Regionale Herstellung und lokale Produkte sind für viele Kund:innen der Kern nachhaltigen Handelns, insbesondere in Krisenzeiten. Das schließt zukünftig die Internationalität, kulturell neue Geschmäcker und innovative Stile nicht aus. Denn mit der steigenden Diversität in Deutschland und Österreich auf dem Konsum- und Arbeitsmarkt wächst die Nachfrage nach einem internationalen Mainstream.
So entstehen neue, nachhaltig regionale Einflüsse: das neue Regional. Dahinter steht Vielfalt statt Überfluss – in Herstellungsweise und im Produkt- und Serviceangebot. Ingwer aus Bayern oder Quinoa aus dem Rheinland sind vereinbar mit dem Anspruch an nachhaltigen und diversen Konsum. Und auch fernöstliche Techniken im Hausbau oder Ernte-Effizienz durch KI-Startups wie Seedalive ermöglichen nachhaltige Prozesse hierzulande.
5. Künstliche Intelligenz ist nicht nachhaltig, sie kann es aber werden. Green AI wächst aus der Forschung für die Wirtschaft
Die Entwicklungen im Feld der Künstlichen Intelligenz schreiten voran, und viele sehen KI als DIE Lösung für eine Vielzahl gesellschaftlicher und nachhaltiger Herausforderungen. Doch bisher verbraucht ein ChatGPT-Verlauf so viel Energie, wie 1.000 Autos auf 1.000 Kilometern, so die Forscher:innen. Die zukünftige Ausrichtung nachhaltiger KI steckt vor allem in der Ausgestaltung von offener Green IT und AI (ressourcenschonend, demokratisierend und inklusiv). Und dem bewussten Einsatz von KI für die großen Nachhaltigkeitsfragen, von Abfallmanagement bis zur regenerativen Produktentwicklung und neuen zirkulären Geschäftsmodellen.
Die Studie skizziert, 79 Prozent der Nachhaltigkeitsziele können durch KI positiv und 35 Prozent negativ beeinflusst werden. Das Forschungsprojekt REIF beispielsweise geht eines der Unterziele des SDG12 an. Es wertet mittels KI-Bedarf und Nachfrage von Fleisch- bzw. Wurstwaren, Milchprodukte und Backwaren und will damit Lebensmittelverschwendung reduzieren. Ein neues MIT-Projekt skizziert die Möglichkeiten der Energie-Einsparung. Es vereint mikroskopisch kleine Lichtteilchen (Photonen) und Elektronen, um die Leistungsfähigkeit von maschinellem Lernen zu steigern und den Energieverbrauch auf einen Bruchteil zu reduzieren.
6. Eine der schnellst wachsenden Branchen, der Onlinehandel, wird entschleunigt
Der Onlinehandel war in den letzten zehn Jahren von enormem Wachstum, aber auch von roten Zahlen und Hyper-Convenience getrieben. In Zeiten des regenerativen Wachstums wird der E-Commerce konsequent entschleunigt, hochwertiger und damit (wirtschaftlich) fokussierter. Im Om:line Retail werden Produktions- und Logistiksysteme nachhaltig gestaltet, beispielsweise per On-Demand-Produktion wie bei Online-Händler Alohas.
Oder auf der letzten Meile. Die Anzahl der Paketzustellungen ist heute um 14 Prozent höher als vor Corona, bis 2027 soll sie jährlich um weitere 3,3 Prozent wachsen. Um das in dem Zug gestiegene Arbeitspensum zu entzerren, hat der Schweizer Onlinehändler Digitec Galaxus die Lieferoption „Langsame Lieferung“ eingeführt. Dies erlaubt dem Händler, Versand und Logistik zu optimieren. Bisher wählen zwei von zehn Kunden die Versandoption im Checkout. Daneben zahlt die Minimierung von Retouren durch detaillierte Produktbilder oder der Einsatz von Mehrwegsystem positiv auf die Ökobilanz ein.
Über die Zukunftsstudie 2024
Zum ersten Mal erscheint die Nachhaltigkeits-Zukunftsstudie der renommierten Handels-Zukunftsforscherin Theresa Schleicher. Der Themenschwerpunkt „Regenerative Growth“ sowie die sechs Retail Trends werden mit zahlreichen Analysen, Statistiken und Cases in der Zukunftsstudie 2024 skizziert. Eingeflossen sind dabei neueste Forschungen u. a. von dem renommierten Thünen-Institut, dem Fraunhofer Institut, der Königlich Technischen Hochschule Schweden und dem DFKI. Sie kann hier gekauft werden.
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