Amazon Go ist nicht die Champions League des Handels. Ehrlich!
War das eine Woche! Am Dienstag ging es morgens bereits los: Die Twitter Timeline platzte vor lauter Berichte über Amazon Go, neben den Branchenaccounts berichteten auch die klassischen Nachrichtendienste über das Thema. Ganz schnell hatte auch unsere Autorin Heike Scholz in einem Bericht das Thema aufgegriffen. Am Mittag dann hatten auch die Fernsehsender Witterung aufgenommen und standen dann bei uns auf der Matte, um schnell noch ein Interview für die Nachrichten aufzunehmen. Etwas ausführlicher dann der Mittwoch, als dann noch die Radiosender auf uns zukamen und noch einen detaillierteren Beitrag mit uns produziert haben.
Was ist passiert? Eine derartiges Medieninteresse kennt man sonst nur von Besuchen der Queen oder Mondlandungen. Und genau das ist das, was Amazon mit so einer Meldung auch bezweckt. Dahinter steckt eine Strategie, und das Muster kennt man aus der Vergangenheit: Amazon launcht sein Mini-Tablet, Amazon macht eine eigene Währung, beliefert mit Drohnen oder in Kofferräumen. All diese Ankündigen haben ein ähnliches Medienecho verursacht, die Nachhaltigkeit blieb oft auf der Strecke. Was geblieben ist: Das Amazon die Branche damit unter Druck setzt und als Mastermind im Bereich der Handelsinnovationen gilt.
Der Prozess ist eher Landesliga
Während andere noch darüber nachdenken, mit welcher innovativen Technik das wohl gelöst wurde, empfehlen wir einen Blick in die Geschichte. Bereits 2008 konnte man bereits mit dem Mobiltelefon einkaufen und bezahlen (siehe auch den Bericht und das Video dazu). Kombiniert man das ganze mit bereits existierenden intelligenten Warenvorschubsystemen, dann wäre die Techik bereits vor 8 Jahren hier in Deutschland möglich gewesen. Und das alles sogar im vor-iPhone-Zeitalter. Der Unterschied: Der Deutsche macht daraus keine weltweiten Kampagnen und bleibt lieber erst einmal im Hintergrund, bis die Lösung zu 300% marktreif ist.
Genau das ist das Henne Ei-Problem: Hier denkt man erst darüber nach, ob der Kunde das will und schickt erst einmal die Marktforscher los. Die sollen dann abchecken, ob der Kunde etwas will, was er nicht kennt. Das Ergebnis kann man sich vorstellen. Was Amazon macht ist hingegen genau das Richtige: Man eröffnet einen Store mit einer freundlich gestimmten Kundschaft, in dem Fall mit Amazon-Mitarbeitern, testet die Lösung und entwickelt sie weiter. Ein klassisch iteratives Lösungsverfahren, das auch wir in unseren Innovationsprojekten praktizieren. Was aber der wichtigere Teil dabei ist: Man macht den Menschen Appetit auf diese Themen und bereitet eine Neukonditionierung der Konsumenten vor. Sind wir doch mal ehrlich: Würde sich heute noch jemand ernsthaft darüber wundern, wenn plötzlich Drohnen über unsere Köpfe schwirren? Nein, denn das ist so in die Köpfe eingebrannt worden, dass es schon fast zur Erwartungshaltung geworden ist.
Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise kommt noch dazu: Den Innovationsdruck im Retail-Kessel zu erhöhen. Jedes Handelsunternehmen hat heute Teams, die entweder im Bereich der Digitalisierung oder der innovativen Formatentwicklung aktiv sind. Die Metro Group war 2002 der erste Händler, der mit der Future Store Initiative die erste mit ernstzunehmenden F&E Budget ausgestattete Business Unit aufgebaut hat. Heute hat das jeder, und Amazon ist nicht ganz unschuldig daran.
Ist das ein Novum?
Wenn man den Prozess des Einkaufens bei Amazon Go den existierenden Self-Scanning Szenarien in den Niederlanden bei Albert Heijn (AH) gegenüberstellt, wird schnell klar, dass der Innovationsschub überhaupt nicht disruptiv ist. Schauen wir uns das in einer Gegenüberstellung einmal an:
- In beiden Fällen lädt man sich erst eine App auf das Smartphone. Bei Albert Heijn betritt man den Laden allerdings ohne sich irgendwie zu registrieren (Warum auch, wenn der Store ein WiFi hat, das die UID jedes Telefons automatisch identifiziert?). 1:0 für AH
- Bei Amazon identifiziert eine aufwändige Kameratechnik, ob sich Bestände verändern, was generell in unteren Regalreihen schwer bis unmöglich wird. Der Kunden muss den Kauf dann bestätigen. Bei AH nimmt der Kunde genau so den Artikel raus, allerdings muss er dann scannen. Dafür entfällt der Prozess des Bestätigens. 1:1 Gleichstand
- Bei losen Artikeln wie z.B. Obst, Gemüse und Backwaren muss die Amazon Lösung passen. 1:0 für AH
- Die AH Lösung kann ohne nennenswerten Aufwand in jeden Supermarkt eingesetzt werden, bei Amazon muss erst eine ausgesprochen aufwändige Technik installiert werden. 1:0 für AH
- Der Checkout ist bei AH noch zu aufwändig, könnte aber theoretisch wegfallen. Man weiß ja, welcher Kunde was gekauft hat und kann das einfach abrechnen. 1:0 für Amazon
4:2 also für die AH Lösung, die auch noch Potenzial nach oben hat. Der wichtigste Vorteil ist die schnelle Ausrollbarkeit ohne Eingriff in die beim Handel so sensible Infrastruktur. Unterm Stricht betrachtet wäre also die AH Lösung mit ein wenig Zusatzentwicklung das bessere Amazon go.
Die weggezauberten Kassen
Zugegeben hat die Amazon Idee auch für Händler einen sehr positiven Geschmack: Der ärgerliche und teure Kassenprozess ist Geschichte. Nicht nur, dass die Kunden in Schlangen stehen müssen (warum überhaupt?), sondern der aus neurowissenschaflicher Sicht schmerzhafte Bezahlprozess fällt einfach weg. Damit ist der letzte Touchpoint nicht mehr negativ belegt. Für Kassenhersteller ein Horrorszenario, dass hoffentlich nicht kommt. Wird es aber! Es wird in Deutschland doch schon vorgemacht. Es nennt sich Bezahlen auf Rechnung und wird bei fast jedem Webshop angeboten. Übersetzt bedeutet das: Kunde, nimm die Sachen mit und bezahle sie zu Hause. Die einzige Information, die man braucht ist „wer hat was mitgenommen? Im RFID, mobiler Technologie oder Touchcode Zeitalter erledigt sich das dann von selbst. Keine gute Perspektive für Kassenhersteller, vielleicht sollte man sich eher mit Zutrittssystemen beschäftigen, wobei wir auch beim nächsten Thema wären. Während hier viele Supermärkte die Eingangsschranken (Portamat genannt) entfernen, wird bei Amazon go eine Zutrittshürde in Form einer Registrierungsfurt wie beim Zugang zum Flughafen-Gate eingeführt. Aus Neuromarketingsicht ein absolutes no go, das dem freien Zugang im Weg steht. Das kann man durch Lokalisierung sicher einfacher lösen, hier ist Nacharbeit gefordert
Lässt sich der Shopper damit begeistern?
Die Frage ist mit „Ja“ zu beantworten, allerdings kommt jetzt das sicherlich erwartete aber:
- Wenn es wirklich Zeit spart
- Für reine Quickie-Einkäufe im klassischen to go Format mit vielleicht 300 Artikeln
- Wenn die Fehlerquelle der Gesamtlösung bei null liegt
- in speziellen Bereichen von Warenhäusern und Elektronikmärkten, in denen man schnell mal eben Batterien oder andere Schnelldreher kauft.
- Wenn der Shopper endlich das Einkaufen per Smartphone in sein Verhaltensmuster übernommen hat.
Mein Vorschlag, wo man es am Besten einmal ausprobieren sollte: In einem Getränkeshop in Wacken zu Zeiten der Open Air Woche. Das wird spannend!
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