ZDE Podcast 124: Attitude-Behavior-Gap im Lebensmitteleinzelhandel – Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit beim Lebensmitteleinkauf?
Zahlreiche ökologische und soziale Herausforderungen unserer Zeit stehen unmittelbar mit unserem Lebensmittelkonsum in Verbindung. Die neue Studie von Prof. Dr. Carsten Kortum und Prof. Dr. Stephan Rüschen von der DHBW Heilbronn und der DHBW-Absolventin Nele Berg „Attitude-Behavior-Gap im LEH“ untersucht das Gap zwischen der Absicht und dem tatsächlichen Kaufverhalten im Bereich der Nachhaltigkeit. Wir haben zugleich auch ein Interview geführt, hier der Podcast dazu:
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Die Studie umfasst eine repräsentative Online-Umfrage bei 3.017 Konsument*innen anhand von 13 definierten Kaufkriterien und Befragungen von 14 Expert*innen von Handel, Herstellern und Dienstleistern. Auf Basis der Ergebnisse werden zehn Handlungsempfehlungen für den Lebensmitteleinzelhandel formuliert.
„Nachhaltigkeit ist neben Digitalisierung das drängende Zukunftsthema unserer Zeit. Im Lebensmitteleinzelhandel ist die Bedeutung von Nachhaltigkeit für das persönliche Wohlbefinden, die Gesundheit und das Konsumsystem bereits sehr hoch“, so Prof. Dr. Carsten Kortum über den Attitude-Behavior Gap im Lebensmitteleinzelhandel. Im Allgemeinen versteht man unter dem Attitude-Behavior-Gap die Diskrepanz zwischen der Konsumabsicht und dem tatsächlichen Handeln.
Um genauere Aussagen über den Gap treffen zu können, wurden die Konsument*innen nach der Bedeutung einzelner Kriterien beim Kauf von Lebensmitteln gefragt, so zum Beispiel die Relevanz des Preis-/Leistungsverhältnisses, der Verpackung, des Fleisch- und Fischverzehrs und der Regionalität von Produkten. Um Empfehlungen aussprechen zu können, wie die Lücken zwischen Wunsch und Verhalten überbrückt werden können, wurden Interviews mit Expert*innen der Lebensmittelbranche geführt, darunter z.B. mit Jan Bredack, Gründer und CEO der Veganz AG oder Fritz Konz (Leitung Qualität und Umwelt von tegut).
Preis-/Leistungsverhältnis hat immer noch höchste Priorität gegenüber der Nachhaltigkeit
Aus den Daten der Studie lässt sich erkennen, dass alle Befragten den einzelnen Nachhaltigkeits-Kriterien eine höhere Bedeutung zumessen als es sich nachher in den Kaufentscheidungen widerspiegelt. Obwohl Nachhaltigkeit eine Rolle spielt, ist der dominierende Faktor bei der Kaufentscheidung mit einem Score von 71 nach wie vor das Preis-/Leistungsverhältnis. Das Thema Tierwohl (59) und Lebensmittelverschwendung (64) spielen beim Einkauf eine höhere Rolle als die viel diskutierte Bio-Ware (40).
Einteilung in der vier Verbrauchergruppen: Vom Überzeugten bis zum Verweigerer
Als Zielgruppen wurden vier Marktsegmente identifiziert. Neben der Differenzierung in Überzeugte (20%) und Verweigerer (24%) bilden die Hybriden (34%) die größte Gruppe, die in einigen Kaufkriterien niedrige und in anderen höhere Gaps vorweist. Doch sind Teile dieser Gruppe durchaus bereit, bei einem unzureichenden Angebot an nachhaltigen Lebensmitteln die Kaufstätte zu wechseln. Bei der vierten Gruppe der Skeptiker (21%) muss die Relevanz über alle Themen hinweg durch aktive Aufklärungsarbeit erst noch erzeugt werden. „Händler müssen aus Sicht der Kund*innen in Zukunft nachhaltiger werden, sonst werden die Kund*innen von nicht-haltigen zu nachhaltigen Händlern abwandern“, stellt Prof. Rüschen fest.
Außerdem ließ sich aus den Daten erkennen, dass unwichtig war, ob die Konsument*innen alt oder jung waren oder über ein geringes oder hohes Einkommen verfügten. „„Das ist überraschend, da oft das Vorurteil besteht, dass die jüngere Generation wesentlich aufgeklärter ist und nachhaltiger konsumiert und die einkommensschwachen Haushalte aufgrund des geringen Einkommens weniger Wert auf Nachhaltigkeit legen können“, fasst Nele Berg die Ergebnisse zusammen.
Zehn Handlungsempfehlungen für den LEH zum Thema Nachhaltigkeit
Auf Basis der Studienergebnisse und der 14 Expert*innen Interviews geben die Autor*innen zehn Handlungsempfehlungen für den LEH.
- Nachhaltigkeit muss in Unternehmen eine Grundhaltung und Bestandteil des Purpose sein.
- Die Branche benötigt ein einheitliches Verständnis und eine einheitliche Definition von Klimaneutralität.
- Es wird ein branchenübergreifender und umfassender Nachhaltigkeit-Score für alle Produkte benötigt.
- Gemeinsame Round-Table Initiativen von Händlern und Herstellern zur Gestaltung des Transformationsprozesses müssen etabliert werden (‚Coopetition‘).
- Preise müssen alle Kosten im Sinne eines True Cost-Ansatzes
- Der Handel muss mit seiner Marktmacht bei den Gesprächen mit Herstellern Nachhaltigkeit vor Konditionen
- Information, Aufklärung und Ehrlichkeit sollten in der Kommunikation Priorität haben, um die Wertschätzung von Lebensmitteln bei Kunden*innen und der eigenen Gesundheit weiter zu steigern.
- In der Sortimentspolitik muss durch Neueinlistungen von Marken und auch Eigenmarken das entsprechende Angebot nachhaltiger Artikel geschaffen werden. Die Eliminierung von nicht-nachhaltigen Produkten und nicht-nachhaltigen Lieferketten sollte branchenweit umgesetzt werden.
- Nachhaltige Produkte müssen in der Platzierung am POS als Alternative für konventionelle Produkte einfach zu finden sein.
- Verpackungen müssen an die tatsächlichen Bedarfsmengen angepasst werden. Die Ökobilanz und Recyclingfähigkeit der
Verpackungen muss für die Kunden*innen transparent sein
Hier gehts zur Studie.
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