Ekinaka: Der Bahnhof wird zur Innenstadt – Was wir von Japan lernen können
Ein Thema, das in Japan seit fast 20 Jahren behandelt wird, und mittlerweile einen großen Teil des Retail Marktes umfasst, ist der Bereich Travel Retail. Hierzulande ist der Begriff eher in Bezug auf Verkaufsflächen in Flughäfen begrenzt, allerdings ist auch an den großen Bahnhöfen Deutschlands eine schleichende Veränderung zu beobachten.
Der Bahnhof als Erlebnisort
Während sich Retail in Deutschland auf die Innenstädte oder Stadtkerne konzentriert, befindet sich in Tokyo ein Großteil des Retail Geschäfts, dem sogenannten Ekinaka, was wörtwörtlich „im Bahnhof“ bedeutet, tatsächlich auch im, unter oder um den Bahnhof herum. Eine Geschäftsidee der East Japan Railway Company (JR East) mit dem Namen Station Renaissance, die seit ihrer Einführung im Jahr 2000 wächst und immense Auswirkungen auf das opportunistische Kaufverhalten und den Erlebnisfaktor beim Einkauf des Reisenden aufzeigt. Frei nach dem Motto: “from a station of passing to a station of gathering”.
“We broke away from the idea that railway stations were just places to pass through and thought that if an attractive shopping area were developed inside a station, people would gather at the station with a sense of purpose” erläuterte Keisuke Kako, Manager der Business Promotion Division JR East in 2017. Durchaus eine innovative Sichtweise, dem Bahnhof ein neues Image und eine neue Aufgabe zu geben, um die Aufenthaltsdauer zu verlängern.
Basierend auf dieser Idee eröffnete 2005 ecute, ein Einkaufszentrum verbunden mit den Bahnhöfen Shinagawa und Omiya. Mit einer durchschnittlichen Personenzahl von 264.815 Reisenden täglich, bot sich vor allem Shinagawa als Startort des Projektes besonders an.
Sobald man an diesen Stationen das Gleis verlässt und mit der Rolltreppe entweder nach oben oder unten fährt, kommt man in die Eingangsbereiche des Ekinaka, dass sich über mehrere Etagen und lange Gänge erstreckt. Dort kann man sowohl dem vielseitigen Shoppingerlebnis erliegen als auch in zahlreichen Restaurants verweilen. Zusätzlicher Service bot die Abschaffung der 0,99 Yen Beträge um die Ausgaben der unbeliebten 1 Yen Münze zu verringen, was zu einem schnelleren Bezahlvorgang führte.
Mittlerweile gibt es im Raum Tokyo über 25 Bahnhöfe mit integrierter Ekinaka. Neben ecute eröffneten weitere große Ekinaka wie LUMINE EST, ATRE, CELEO oder OPA in der gesamten Tokyo Area. Allein Lumine EST besetzt an 16 Standorten eine Gesamtfläche von 2 Millionen Quadratmetern, wobei alle Malls an regionale Anforderungen angepasst sind: In Stadtteilen mit jungen Familien wurden z.B. Kindergärten integriert, was sowohl das Bringen als auch das Abholen der Kinder erleichtert. Gleichzeitig kann der Wocheneinkauf im selben Gebäude durchgeführt werden. Bis 2017 sind bereits über 100 Kindergärten in Bahnhof-Malls/Ekinakas eröffnet worden.
Retailer werden zum Alleinstellungsmerkmal und fördern den Tourismus
Auch die Revitalisierung regionaler Händler sieht JR East als Aufgabe der Bahngesellschaft. Das führte natürlich auch zur Herstellung von Eigenmarken und speziell für diese Bahnhöfe angebaute oder angefertigte Produkte. Diese wiederum gelten als beliebte Mitbringsel auf Durchreisen, was sie besonders attraktiv machen. Dazu zählen unter anderem limited Edition Geschenkeboxen, Kekse, Notizbücher, Jutebeutel, Snacks und Merchandise in alle erdenklichen Richtungen.
Einzigartige, regionale Produkte, sowohl im Bereich Einzelhandel als auch in der Gastronomie, führten zu einem Shoppingerlebnis, dass sogar merklich auf die Tourismusbranche übergegriffen hat.
Berühmte Restaurant Straßen wie die „Ramen Street“ mit Nudelsuppenvariationen aus ganz Japan, bis hin zur „Charakter Street“ in der man seine Lieblingsfiguren aus Zeitschriften oder Fernsehen in verschiedensten Merchandise Formaten kaufen kann, machen Stationen wie den Bahnhof Tokyo zu einer beliebten Touristenattraktion. Dabei wird besonders darauf Acht gegeben, dass jede Station ein absolutes Alleinstellungsmerkmal aufweist. In der westlichen Welt ist vor allem der Shibuya Bahnhof mit der Hundestatur Hachiko bekannt, die als Selfiepoint massenhaft Touristen anzieht und dessen Geschichte sogar Hollywood inspirierte. Aber wer hat schon etwas gegen Richard Gere mit einem süßen Hund?
Travel Retail auch in Deutschland?
In Japan wird der Bahnhof zum eigenen Stadtzentrum mit fluktuierender Infrastruktur und eigener Erlebniswelten. Doch auch in Deutschland lassen sich diverse Steigerungen messen. Daten des EHI belegen eine Entwicklung der Handelsflächen in deutschen Bahnhöfen. Deutlich erkennbar ist dies in Köln und Hamburg, wo sich eine Steigerung der Besucherfrequenz um 50% in den letzten 20 Jahre feststellen ließ.
2017 konnte Köln mit 69 Verkaufsflächen bis zu 280.000 Besucher, und Hamburg mit 77 Verkaufsflächen sogar 450.000 Reisende täglich vorweisen. Auch hier wurde im Zuge der Revitalisierung das Shoppingangebot erheblich ausgeweitet. Der Trend geht auch hierzulande in Richtung Travel Retail, von dem bis heute hauptsächlich die Flughäfen profitiert haben.
Insgesamt lag der Anteil der Mieter aus dem Einzelhandel in deutschen Bahnhöfen 2017 bei 43 Prozent. Ein deutliches Zeichen, dass auch der Handel gute Standorte besetzen kann. In Anbetracht der Mietflächenverteilung ergab sich aus der Studie „Travel Retail 2017“ des EHIs, dass in den meisten Fällen der Einzelhandel dominiert. Im Durchschnitt belegten die Einzelhändler 53% der Fläche.
Ein Beispiel nach ähnlichem Prinzip wie das in Japan ist der Berliner Hauptbahnhof mit ca. 80 Ladengeschäften. Auffällig ist da natürlich der Prestige Status der einzelnen Geschäfte, was womöglich auf die Ladenmiete zurück zu führen ist. Gute Idee, aber die falsche Klientel! Das Angebot von Luxusgütern ist da schlichtweg fehl am Platz. Vielmehr empfiehlt es sich schon fast, nach dem Vorbild Japans, den Bahnhof als Stadtkern zu betrachten und auch dort die mittelständischen Retailer in den Vordergrund zu stellen. DM macht das an fast jedem Bahnhof bestens vor. Zwar ist das Sortiment eher auf Laufkundschaft ausgelegt, dennoch zu erschwinglichen Preisen. Auch an dieser Stelle sollte man eventuell umdenken und den Focus auf verlängerte Aufenthaltsdauer legen, was schlussendlich auch zu einer Umsatzerhöhung führt.
Vor allem mit den steigenden Besucherzahlen, die aus einem wachsenden Umweltbewusstsein resultieren, bieten sich Bahnhöfe als perfekter Ausgangspunkt für eine neue Retail-Branche. Bauliche Restriktionen bei Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert und älter erschweren einen Ausbau im direkten Innenbereich des Bahnhofs, schließen dennoch nicht die Gebiete um und unterhalb des Gebäudes aus. Besonders wenn man bedenkt, dass die Bahnen 2018 insgesamt 2750 Tage, und somit fast 4 Millionen Minuten Verspätung vorweisen. Nichts frustriert mehr, als verschwendete Zeit. Wenn man in diesem Zeitraum die Hälfte seiner Weihnachtseinkäufe erledigen könnte, ohne das Gebäude verlassen zu müssen, würde auch die Wartezeit nicht mehr so schlimm erscheinen. Und wenn die Geschäfte auf längere Aufenthaltszeit und Erlebnis ausgelegt sind, verbringt man dort auch gerne die übrige Zeit, auch wenn man nicht unbedingt den nächsten Zug bekommen muss sondern der Bahnhof selbst das Ziel geworden ist.
An dieser Stelle springt einem das Ladenschlussgesetz als Umsatzquelle schon förmlich in Gesicht. Hier gibt es Deutschlandweit ganz klar Innovationsbedarf! Innerhalb wie Außerhalb des Betriebs. Und wenn es doch irgendwann noch zu einer Investitionsbereitschaft kommt und die Bahngesellschaft das vor ihrer Nase liegende Travel Retail Thema endlich ernst nimmt, dann lohnt es sich sogar extra ein paar Verspätungen einzubauen, wenn der Umsatz sich derweil verdoppelt ;)
Unsere Autorin: Stefanie Otto
Stefanie Otto arbeitet als Junior Projektmanagerin bei der gmvteam GmbH, der Düsseldorfer Innovationsagentur für Handel und Stadtentwicklung.
Bildquelle: Hizaki Takashima, Markus Pleuss, unsplash
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