KI im Einzelhandel: Die Kluft zwischen Erwartung und Realität
Der deutsche Einzelhandel steckt in einer Zwickmühle. Die Konsumstimmung bleibt gedrückt, Kaufzurückhaltung bestimmt das Geschäft, und von einer Erholung ist wenig zu spüren. Gleichzeitig steht mit Künstlicher Intelligenz eine Technologie bereit, die verspricht, Prozesse zu verschlanken, Personalisierung voranzutreiben und Kundenerlebnisse zu verbessern.
Doch zwischen technischer Möglichkeit und tatsächlicher Umsetzung liegt im Jahr 2025 eine Lücke, die sich nicht von allein schließt. Das zeigt die aktuelle IFH-Schwerpunktstudie „Transformation trifft Innovation: Smart Retail und AI im Handel“ auf Basis einer Befragung von 1.000 Konsumenten und 100 Einzelhändlern im Frühsommer 2025.
Konsumenten sind bereit, der Handel zögert
Die Zahlen sind eindeutig: Über 40 Prozent der Konsumenten nutzen bereits ChatGPT, bei den 16- bis 29-Jährigen sind es drei von vier. Drei Viertel der Befragten zählen sich zu den „Innovators“, „Early Adopters“ oder „Early Majority“.
Die Erwartung ist klar: Wer heute einkauft, geht davon aus, dass KI im Hintergrund bereits arbeitet, Prozesse effizienter macht und das Einkaufserlebnis verbessert.
Auf Seiten der Händler herrscht dagegen Zurückhaltung. Nur ein Drittel glaubt an revolutionäre Veränderungen durch KI, und strategisch verankert ist die Technologie in den wenigsten Unternehmen. Flächendeckend eingesetzt wird KI derzeit vor allem im Bestandsmanagement und in der Logistik, wo 53 Prozent der Händler sie nutzen.
In allen anderen Bereichen befinden sich die meisten Unternehmen noch in der Testphase.
Prozessoptimierung: KI im Maschinenraum
Im Bestandsmanagement und in der Logistik ist KI für viele Händler bereits Realität. 74 Prozent der befragten Einzelhändler setzen KI in der Prozessoptimierung ein:
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25 Prozent zur Kostensenkung
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17 Prozent zur Verbesserung der Datenqualität
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14 Prozent zur Automatisierung manueller Aufgaben
Doch der Weg zur flächendeckenden Nutzung ist steinig. Fehlendes Know-how (29 Prozent), komplexe IT-Integration (27 Prozent) und eine unzureichende Datenbasis bremsen den Fortschritt.
Hinzu kommt ein Kommunikationsproblem: Händler kommunizieren den Einsatz von KI in internen Prozessen nur selten transparent gegenüber Kunden, obwohl mindestens zwei Drittel der Konsumenten sich genau das wünschen.
Vorteilsprogramme: Personalisierung mit Datenschutz-Dilemma
App-basierte Vorteilsprogramme von REWE Bonus über LIDL Plus bis myMediaMarkt gehören zu den KI-Anwendungen mit dem größten Potenzial. 73 Prozent der Konsumenten glauben, durch KI-basierte Programme bessere Angebote zu erhalten, und würden diese regelmäßig oder gelegentlich nutzen (74 Prozent).
Besonders geschätzt werden:
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Das Erkennen verdächtiger Aktivitäten (47 Prozent)
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Maßgeschneiderte Angebote (45 Prozent)
Doch Datenschutzbedenken sind weit verbreitet. Die Angst vor übermäßiger Datenspeicherung (54 Prozent) oder dem Verkauf persönlicher Informationen an Dritte (53 Prozent) ist groß.
Händler stehen vor der Aufgabe, transparent zu kommunizieren, wie Daten genutzt werden, und gleichzeitig echten Mehrwert zu bieten.
Produktempfehlungen: Relevant, aber nicht immer fair
Personalisierte Produktempfehlungen sind im Online-Handel längst Standard. Knapp zwei Drittel der Konsumenten (62 Prozent) glauben, dass KI ihnen bessere, relevantere Vorschläge liefern kann, genauso viele würden diese auch nutzen.
73 Prozent sehen in KI-gestützten Produktempfehlungen einen Vorteil für sich als Kunden. Besonders geschätzt werden:
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Vorschläge, die auf persönliche Interessen zugeschnitten sind (40 Prozent)
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Sichtbarmachen neuer Produkte (41 Prozent)
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Passende Angebote (38 Prozent)
Doch Vertrauen ist auch hier entscheidend. Viele Konsumenten befürchten, durch KI nicht den besten Preis zu erhalten (45 Prozent) oder zu häufig zum Kauf animiert zu werden (38 Prozent).
Händler müssen Empfehlungen nicht nur technisch präzise, sondern auch fair und nachvollziehbar gestalten.
Live-Chats: Effizienz trifft Empathie
KI-gestützte Live-Chats sind allgegenwärtig, ob bei Zalando, IKEA oder der Telekom. Rund 60 Prozent der Konsumenten würden sie zumindest gelegentlich nutzen, doch nur die Hälfte (53 Prozent) glaubt, dadurch tatsächlich besseren Service zu erhalten.
Die Bilanz ist gespalten. Vorteile:
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24/7-Verfügbarkeit (64 Prozent)
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Zeitersparnis (51 Prozent)
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Schnelle Reaktionszeiten (49 Prozent)
Kritikpunkte:
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Fehlende Empathie (51 Prozent)
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Mangelnde Problemlösung bei komplexeren Anliegen (51 Prozent)
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Unpassende Antworten (42 Prozent)
Über die Hälfte der Einzelhändler setzen KI in der Kundeninteraktion ein, meist um automatischer, schneller und personalisierter zu agieren. Die Lösung liegt in hybriden Modellen: KI bearbeitet einfache Anfragen effizient, bei sensiblen oder individuellen Themen bleibt der menschliche Kontakt unersetzlich.
Transparenz als Vertrauensfaktor
Konsumenten wollen verstehen, wo und wie KI wirkt und welchen konkreten Nutzen sie daraus ziehen. Mindestens zwei Drittel wünschen sich über alle Anwendungsbereiche hinweg eine klare und transparente Kommunikation zum Einsatz von KI im Einzelhandel.
Händler kommunizieren ihren KI-Einsatz bislang überwiegend selektiv:
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Beratung und Kundenservice: 73 Prozent
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Marketing und Werbung: 63 Prozent
Interne Anwendungsfelder bleiben dagegen häufig unerwähnt:
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Betrugserkennung: 43 Prozent
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Personal: 41 Prozent
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Absatzprognosen: 36 Prozent
Diese Intransparenz ist eine verpasste Chance, denn Kunden wollen auch bei internen Prozessen nachvollziehen können, wo KI zum Einsatz kommt.
Digital Detox und menschliche Nähe
Trotz steigender Technologieoffenheit nimmt auch die Technologiemüdigkeit zu. Der Wunsch nach vermehrten echten Begegnungen ist von 43 Prozent (2023) auf 54 Prozent (2025) gestiegen, bei den 16- bis 29-Jährigen sogar auf 66 Prozent.
Zwei Drittel dieser jungen Zielgruppe haben das Gefühl, zu viel Zeit am Smartphone zu verbringen.
Der Handel steht vor der Herausforderung, die Balance zwischen digitaler Innovation und menschlicher Nähe zu finden. KI kann Prozesse effizienter machen und Erlebnisse personalisieren, doch ohne echte Begegnung und menschliche Ansprache bleibt sie unvollständig.
Fazit
Die Studie offenbart eine unangenehme Wahrheit: Der Einzelhandel hinkt den Erwartungen seiner Kunden hinterher. Konsumenten sind bereit für KI, nutzen sie privat und erwarten sie im Handel. Händler dagegen verharren in Testphasen und punktuellen Anwendungen, ohne strategische Verankerung.
Dabei liegt das größte Hindernis nicht in der Technologie selbst, sondern in fehlendem Know-how, einer unzureichenden Datenbasis und einer Kultur des Abwartens.
Wer jetzt nicht handelt, riskiert mehr als Effizienz. Er riskiert den Anschluss an eine Generation, die digitale Exzellenz als Mindeststandard erwartet und gleichzeitig menschliche Nähe einfordert. Die Frage ist nicht, ob KI den Handel verändert, sondern wer diese Veränderung aktiv gestaltet und wer nur reagiert, wenn es längst zu spät ist.
Der vollständige Report des IFH Köln „Transformation trifft Innovation: Wie KI den Handel neu definiert“ kann hier bezogen werden: https://www.ifhkoeln.de/transformation-trifft-innovation-wie-ki-den-handel-neu-definiert/
Foto von D Z auf Unsplash











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