Autofreiheit: Friedrichstraße oder Warum man nicht nur ein bisschen schwanger sein kann.
Die Berliner Friedrichstraße ist seit 21. August für den Rest dieses Jahres zwischen Französischer und Leipziger Straße teilweise für Autos gesperrt. Man verspricht sich mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger, dadurch soll die Einkaufsmeile belebt werden. Eine Betrachtung.
Es ist erst einmal ein Test
In einem Pilotversuch soll herausgefunden werden, wie sich der wegbleibende Autoverkehr auf die Aufenthaltsqualität in der Straße auswirkt. Andererseits sollen die Auswirkungen der Sperrung auf den Verkehr getestet werden. So weit so gut. Wir haben hier schon oft über verschiedene Konzepte berichtet und sind von einer Attraktivitätssteigerung durch Verbesserung der Aufenthaltsqualität vollkommen überzeugt. Es gibt aber auch hier wieder die Bewahrer, die das Ende des Handels, der Anwohner, der Galaxie und des Universums voraussagen und den alten Zustand wieder herstellen wollen.
Das sagen die Menschen vor Ort
Unsere Recherchen haben ergeben, dass die Veränderung mit gemischter Wahrnehmung gespiegelt wird. Man redet einerseits von „…einer grauen Wüste mit Rennradstrecke…“ andererseits von einer „Flaniermeile mit Weltstadtniveau“. Wir haben uns vor Ort umgesehen und uns ein eigenes Bild gemacht. Eines ist sofort aufgefallen: Eine attraktive Aufenthaltsqualität sieht anders aus. Die Anmutung ist noch weniger gelungen als das berühmte „Beta“ der Startups.
Die Umsetzung ist ausgesprochen lieblos
Wenn man die Absicht hat, in einem Pilotversuch Erkenntnisse zu erlangen, sollte man auch ein Konzept mit gesamtheitlichen Charakter zu Grunde legen. Genau das ist hier nicht erkennbar. Damit verwischt man den Eindruck und die Ergebnisse des Tests sind nicht eindeutig. Aus der Studie „Vitale Innenstädte“ des Instituts für Handelsforschung wissen wir, dass 2 elementare Treiber für Aufenthaltsqualität Flair und Ambiente sind. Beides fehlt hier vollkommen. Was die Gestalter der Friedrichstraße unserer Hauptstadt und den Besuchern und Touristen da präsentieren wollen ist nicht nachvollziehbar und erweckt den Anschein der Ratlosigkeit. Man könnte doch glatt den Eindruck gewinnen, dass man auf einen erfolgreichen Abschluss des Pilotprojektes keinen besonderen Wert legt. Wie die Bilder zeigen spielt das Thema Stadtmöblierung eine untergeordnete Rolle. Provisorisch aufgestellte Pflanzen in Bretterkübeln, Sitzgelegenheiten mit geringem Attraktivitätsfaktor und ab und an ein Food Truck sind nicht das, was man sich unter einer Flaniermeile vorstellt.
Das Verkehrsproblem Auto wurde vertauscht
Wer jemals in Berlin unterwegs war weiß, dass ein Teil der Fahrradfahrer seine Rechte (und auch seine Unrechte) mit sehr radikalen Mitteln einfordert. Davor ist auch die Friedrichstraße nicht gefeit. Man hat die PKWs entfernt und gegen eine Fahrradautobahn ersetzt, deren gerade Linienführung zum Speed-Training für Radler und E-Scooteristen einlädt. Wer die deshalb trotzdem vorhandene Fahrbahn überqueren will, muss die gleiche Aufmerksamkeit an den Tag legen, wie auf dem nicht beruhigten Teil der Friedrichstraße.
Methode GMV hilft
Es gibt in der Stadt exzellente Agenturen, die sich mit dem Thema Stadt richtig gut auskennen. Mit denen hätte man die lokalen Akteure zusammenbringen können, um diesen Lebensraum der Stadt für den Zeitraum des Tests neu zu definieren. Ja-Richtig! Die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Des Weiteren könnte man aber auch:
- Kunst im öffentlichen Raum inszenieren
- Sportvereinen eine Bühne geben
- Den durch Covid-19 arbeitslosen Künstlern eine Bühne bereiten
Das sind nur ein paar Ideen, die einem auf Anhieb einfallen. Die Richtigen bekommt man garantiert, wenn man die Menschen vor Ort mit einbezieht! Es bleibt also spannend!
Bildquelle: Frank Rehme
Man kann es drehen und wenden wie man will, Autos raus aus der Stadt, bedeutet weniger Menschen in die Stadt. Da hilft auch Kunst im Strassenraum nichts. Wer einkaufen will, will das jetzt sofort und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln planen müssen, wer einkaufen will, hat keine Lust, die gekauften, vielleicht unhandlichen, Teile im Bus notdürftig unterbringen zu können. Grundsätzlich hat der Einkäufer keine Lust auf Fahrpläne. Von schlechtem Wetter und grundsätzlichen Schwierigkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln gar nicht zu sprechen. Ersatz Fahrrad entfällt. Zu unpraktisch. Wenn Stadtplaner nicht Städte planen, sondern Ideologien umsetzen wollen, leiden die Städte, übrigens nicht nur der Handel, sondern auch die Gastronomie. Und wer will, dass der stationäre Handel eine Chance gegen den Internethandel haben soll, der muss Städte öffnen, attraktive Verkehrs-und Parkangebote machen, und nicht die Städte schliessen.
Bekanntlicherweise machen Fahradfahrer nur den halben Prokopfumsatz im Ladengeschäft wie die Autofahrer, wo sollen die den auf einmal alle herkommen. Lastenräder/ Fahrradeinkaufskörbe (designexotisch) sieht man/frau nur in ganz geringen Anteil, trotz Hoffnung aufs Ebike, das sind alles mehr Cafebesucher, die als Stammkunden 5€ Kaffeeumsatz pro Std machen. Bei schlechterem Wetter überhaupt nicht mehr zu sehen. Alleinig zusätzliche Parkkonzepte in der Nähe bis 200m von den Fußgängerzonen halten den Individualeinkauf aufrecht. Auch außergewöhnliche Angebotsvielfalt wird ermüden, da der alltägliche Bedarf die Haupteinnahmen sind und dann die Dinge gekauft werden, die keiner braucht, ist gleich kontraproduktiv zur künftigen Konsumbereitschaft hinsichtlich Nachhaltigkeit.