Passive Ownership: Warum viele Produkte gekauft, aber nicht genutzt werden
Eine tiefenpsychologische Untersuchung unter Leitung von Prof. Dr. Nils Andres, Gründer Brand Sience Institute, hat ein verbreitetes Konsummuster analysiert, das für Handel, Industrie und Bildungseinrichtungen relevant ist: Passive Ownership: der Besitz von Dingen, die bewusst gekauft, aber nicht genutzt werden.
Die Studie zeigt:
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73 % besitzen mindestens ein Produkt, das sie nie verwenden.
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Besonders betroffen sind Produkte zur Selbstoptimierung, Wissensaneignung oder Selbstfürsorge
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Die Betroffenen berichten von einem bewussten Kauf mit positiver Absicht, aber auch von einem Rückzug vor der Nutzung
Dahinter steckt keine reine Aufschieberitis. Vielmehr zeigen sich psychologische Dynamiken wie symbolischer Besitz, Ideal-Selbstbilder und die Angst, durch aktive Nutzung das Ideal zu beschädigen.
Konfliktvermeidung und -kompensation
Aus psychodynamischer Sicht wird Besitz häufig nicht aus funktionalem Wunsch heraus angestrebt, sondern als Ersatzhandlung. Er dient dazu, innere Konflikte zu vermeiden oder zu kompensieren.
Konkret identifiziert die Studie mehrere psychologische Motive:
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Vermeidung: Nutzung wird vermieden, weil sie die Angst vor dem Scheitern oder dem Verlust eines Idealbildes auslösen könnte.
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Ersatzhandlung: Der Kauf ersetzt eine Handlung, die eigentlich notwendig oder erwünscht wäre, etwa Selbstfürsorge, Weiterbildung oder soziale Interaktion.
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Über-Ich-Konflikt: Das innere Wertesystem verbietet scheinbar „unnütze“ oder „genussvolle“ Handlungen. Konsum wird so moralisch belastet.
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Verbot der Freude: Die Nutzung eines Produkts könnte unbewusst als zu viel Genuss empfunden werden. Der Besitz bleibt erlaubt, die Anwendung tabu.
Besitz ersetzt dabei symbolisch das Gefühl von Kontrolle, Selbstwert oder Zugehörigkeit. Die Ware wird zu einem psychischen Stellvertreter, der seine Funktion gerade durch Nicht-Nutzung erfüllt.
Relevanz für den stationären Handel und die Markenführung
Die Ergebnisse sind für Händler, Marken und Plattformbetreiber unmittelbar bedeutsam. Denn sie stellen in Frage, dass ein Kaufverhalten automatisch auch zu einem Nutzungserlebnis führt und damit zu Wiederkauf, Weiterempfehlung oder Loyalität.
Für den Handel heißt das konkret:
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Der einmalige Abverkauf sagt nichts über den Produkterfolg aus
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Eine hohe Zahl passiver Besitzer kann zu Reaktanz, Frust oder Retouren führen
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Unzureichende Aktivierung senkt die Weiterempfehlungsrate und Kundenbindung
Produktkategorien mit hohem Risiko für Passive Ownership sind laut Studie vor allem solche, die Selbstoptimierung, Bildung oder Selbstfürsorge versprechen. Dazu zählen unter anderem Küchenutensilien, Sportartikel, digitale Lernangebote, DIY-Materialien, Gesundheitsprodukte und Anwendungen rund um Selfcare.
Händlerinnen und Händler, die in diesen Bereichen aktiv sind, gleich ob stationär oder digital, sollten gezielt prüfen, wie stark ihre Produkte tatsächlich genutzt werden.
Handlungsperspektiven: Nutzung ermöglichen statt blockieren
Die Studie zeigt, dass herkömmliches Marketing oft unbeabsichtigt zur Passivität beiträgt. Wer die Nutzung fördern will, muss psychische Barrieren ernst nehmen und gezielt abbauen. Daraus ergeben sich vier konkrete Ansätze:
1. Einladung statt Überhöhung
Klassische Werbeversprechen, die das Produkt mit Idealbildern wie Selbstverwirklichung oder Veränderung aufladen, erhöhen die psychische Schwelle zur Nutzung. Effektiver ist eine Kommunikation, die nicht auf das Endziel, sondern auf die erste Handlungsebene fokussiert. Der Einstieg soll niedrigschwellig und als realisierbar erscheinen.
2. Entlastung statt Bewertung
Produkte, die Feedback geben, Fortschritt anzeigen oder Vergleich ermöglichen, bergen die Gefahr, als Prüfmechanismus wahrgenommen zu werden. Eine nutzerfreundliche Gestaltung vermeidet Bewertungssituationen und fördert stattdessen schrittweises Ausprobieren ohne Erfolgsdruck.
3. Handlungssicherheit durch Anschlussfähigkeit
Handlung entsteht selten durch Funktionsvielfalt, sondern durch das Gefühl innerer Erlaubnis. Alltagsverankerungen, wie einfache semantische Handlungsanker oder Mikroskripte („nach dem Zähneputzen“, „während der Wartezeit“), stärken die Anschlussfähigkeit.
4. Beziehung statt Status
Produkte mit hoher symbolischer Aufladung, etwa im Kontext von Status, Optimierung oder Leistung, werden besonders häufig passiv besessen. Eine bewusste Deaktivierung dieser Codierung kann die Nutzung erleichtern. Im Fokus steht dann nicht mehr das Idealbild, sondern die Beziehung zwischen Nutzerin oder Nutzer und Produkt.
Fazit: Nicht der Verkauf zählt, sondern die Integration ins Leben
Die Studie zur passiven Besitzstruktur zeigt deutlich: Ein erfolgreich verkauftes Produkt ist nicht automatisch ein erfolgreich genutztes Produkt.
Gerade für Händler, die auf Nachhaltigkeit, Bindung und Differenzierung setzen, liegt hier Potenzial: Wer nicht nur Produkte verkauft, sondern auch ihre reale Integration in den Alltag fördert, schafft langfristige Beziehungen, bessere Bewertungen und stärkere Wiederkehrraten.
Nutzung ist kein Nebeneffekt. Sie ist der eigentliche Moment, in dem der Wert des Produkts entsteht.
Die Studie kann hier auf LinkedIn gelesen werden.
Foto von Ivan Lopatin auf Unsplash
Hallo Frau Scholz,
Sehr spannender Artikel, danke dafür.
Ich habe die Studie nicht gelesen, dennoch taucht bei mir die Frage auf, ob sich dieses passive ownership auch auf die Reflexion des Ladens beziehen kann. Je nach Motivation stelle ich mir vor, dass es dazu führt, daraus resultierende negative Emotionen (ich bereue den Kauf etc) zu vermeiden und dadurch instinktiv das Ladengeschäft gemieden wird. Gibt es dazu Erkenntnisse?
Moin Frau Zimmermann,
in der Studie wird dies nicht explizit ausgeführt. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass negative Empfindungen auch auf das Handelsunternehmen übertragen werden. Nicht nur Hersteller sollten gezielter auf die Nutzung abzielen, auch für den Handel ist das in meinen Augen eine gute Idee, um eben genau diesen Frust bei den Kund*innen gar nicht erst aufkommen zu lassen.