Store Check in Berlin: Des Kaisers neue Karte
Sind des Kaisers neuen Kleider nicht prachtvoll? „Ja!“ schreit das Volk. Denn die Experten hatten Ihnen gesagt, dass nur dumme Menschen diese nicht sehen könnten. Und so schauten die Untertanen auf den nackten Kaiser, trotzten ihrem inneren Unbehagen und wagten sich nicht zu widersprechen. Bis einer schrie: „Nein! Denn der hat ja gar nichts an.“
Vielen Kunden dürfte diese Verunsicherung in Zeiten des digitalen Wandels bekannt vorkommen. Ist es wirklich nötig meine Daten herzugeben, wenn ich an der schönen neuen Welt der individualisierten Rabattierung teilnehmen möchte?
Seit vielen Jahren wird viel dafür getan, Kundenkarten attraktiv zu gestalten. Die Konten der Shopper füllen sich mit Punkten und versprechen Cashback oder attraktive Prämien. Ein fader Beigeschmack aber bleibt bei vielen Nutzern: Verkaufen sie ihre persönlichen Daten eigentlich zu einem fairen Preis?
In Zeiten, in denen viele Experten verlauten lassen, dass die neuen, aufgeklärten und modernen Kunde ihre privaten Daten als Währung für den Zugang zu der schönen neuen Welt der Digitalisierung und individuellen Preisgestaltung akzeptieren, bricht Kaisers mit diesem Glauben. Die Supermarktkette spricht laut aus, an was viele innerlich weiterhin glauben wollten: Ihre Kunden dürfen anonym bleiben. So bemüht sich die Unternehmensgruppe Tengelmann das Kundenbedürfnis nach Datenschutz als Wettbewerbsvorteil zu Nutze zu machen.
Hinter dem Projekt steckt Software des Berliner Startups SO1. Das Unternehmen kombiniert das Einkaufsverhalten einzelner Nutzers mit dem Haushaltspanel der GfK und ermittelt daraus individuelle Angebote.
In rund 150 Kaiser-Märkten rund um Berlin können Kunden die neue Extra Karte bereits nutzen. Mehr als 110.000 verteilte Karten und über 60.000 aktive Nutzer soll es bereits im Sommer gegeben haben.
Ich habe unseren Besuch des diesjährigen Handelskongresses zum Anlass genommen und neugierig den Markt im Bikini Berlin unter die Lupe genommen.
„Ich habe nichts zu verbergen. Außer meine Daten“
Die Werbung auf den Monitoren spricht mich direkt an. Ich bleibe stehen und werde prompt von einem Verkäufer als potentielle neue Extra-Karten-Besitzerin erkannt. „Bitte schön! Ihre anonyme Kundenkarte. Jetzt kann das Sparen losgehen. Da steht der Automat.“ Keine zwei Minuten nachdem ich den Supermarkt betreten habe, stehe ich also am Terminal und ziehe mir den Ausdruck mit meinen Rabatten. Zwei Artikel, die ich zwar sonst nie kaufen würde, wecken mein Interesse: Eine Dose Energiedrink von einer mir völlig unbekannten Marke und Studentenfutter. Ich begebe mich also auf die Suche nach den Artikeln und greife zu.
Am nächsten Tag sitze ich mit deutlichem Schlafdefizit im Zug Richtung Heimat. Ich öffne meinen Dose, reiße die Nusstüte auf und halte einen Moment inne. Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte die schöne neue Welt der individuellen Preisgestaltung betreten ohne dafür zu bezahlen. Ein gutes Gefühl – und zwar ohne faden Beigeschmack.
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