Digitalisierung im Handel – Darf’s ein Bisschen mehr sein?
Der Handel muss sich digitalisieren um mit den Erwartungen der Kunden Schritt zu halten, soviel sollte eigentlich allen Marktakteuren bewusst sein. Um herauszufinden wie der Stand der Digitalisierung im Handel ist und wie der Handel die Situation selber sieht, hat der Verband Bitkom eine Studie durchgeführt; die Ergebnisse wurden Ende Juni herausgegeben.
Digitalisierung im Handel? Richtige Selbsteinschätzung
In der Eigeneinschätzung sieht der Handel sich mit 77% einerseits in überwiegender Mehrzahl als Nachzügler in der Digitalisierung, verstehen diese aber mit 66% eher als Chance als als Risiko. Nichtsdestotrotz haben 11 Prozent der Händler immer noch keine eigene Homepage, beim rein stationären Handel sind es sogar 36 Prozent. Dies ergab die repräsentative Umfrage des Digitalverbandes Bitkom unter mehr als 500 online und stationär tätigen Einzel- und Großhändlern.
Vermarktung über Online läuft!
Immerhin scheinen Online Shops mittlerweile fast selbstverständlich zu sein, so gaben 65% der Befragten an, ihre Produkte sowohl off- wie online zu verkaufen, in der Regel (71%) mit dem gleichen Angebot. Nur wenige (6%) nutzen die Chance eines erweiterten Sortimentes online. Eigentlich schade, denn Online bietet die Möglichkeit ein wesentlich größeres Produktportfolio anzubieten und der Handel verdient mit dem zusätzlichen Onlinekanal wirklich Geld. So macht jeder Zweite bis zu 30% seines Umsatzes online, jeder Dritte zwischen 30 und 50% und immerhin jeder Zehnte über 50%.
Investitionen in Digitalisierung zögerlich
Trotz des erkannten Nachholbedarfs ist das Investitionsverhalten des Handels überwiegend verhalten. Nur 28% der Befragten gaben an in 2017 mehr in die Digitalisierung investieren zu wollen, 50% planen gleich viel zu investieren und immerhin fast 20% planen sogar weniger.
Und das, trotzdem die Vorteile der Digitalisierung im Handel insbesondere im Alltagsgeschäft durchaus gesehen werden, sei es für die Kommunikation mit den Kunden (83%), die Bestellmöglichkeiten beim Lieferanten (74 Prozent), oder die Kommunikation mit Geschäftspartnern (65 %). Zudem versteht der Handel die Digitalisierung als Weg zu mehr Umsätzen, um bestehende Geschäftsmodelle (60%) auszubauen und sogar um neue Einnahmequellen zu schaffen (58%). Über die Hälfte der befragten Händler gab an, bereits heute durch die Digitalisierung neue Kunden gewonnen zu haben und sehen ein langfristiges Umsatzwachstum als Folge.
Wo sind denn die Hürden?
Der größte Schmerz bei der Digitalisierung im Handel scheinen Datenschutz (86%) und Cyberbetrug zu sein (77%). Fast verständlicherweise sind auch 81% der Händler von den hohen Investitionskosten abgeschreckt. Erstaunlich, vielleicht sogar erschreckend ist, dass immerhin jeder Zweite (51%) Angst vor dem Verlust des persönlichen Kontakts zum Kunden durch die Digitalisierung hat, anstatt sie als Möglichkeit zu verstehen den Kunden auf der Shopper Journey an weiteren Touchpoints zu begleiten.
Der Handel der Zukunft ist digital … sagt der Handel.
Das zögerliche Investitionsverhalten des Handels mag prinzipiell verständlich sein, verblüfft aber dennoch, wenn man betrachtet wie digital der Handel die Zukunft selber einschätzt. Immerhin glauben 65% der Befragten, dass in 2030 das Bezahlen automatisiert ist, 53% glauben an den Einsatz von Virtual Reality im stationären Geschäft, 61% sehen den stationären Handel gar in einer Showroomfunktion.
Mein Fazit
Der Handel scheint eigentlich durchaus verstanden zu haben, dass die Digitalisierung im Handel mehr Chancen als Risiken bietet, um so mehr erschreckt die mangelnde Investitionsbereitschaft, denn Kunden erwarten bereits heute vernetztes Einkaufserlebnis. Der Shopper denkt und kauft nicht in Kanälen, es gibt nur selten ein definitive Vorabentscheidung für stationären oder online Kauf, es kommt immer auf die Situation und die aktuelle Bedürfnislage an, eben die „Relevanz“.
Das heißt aber nicht unbedingt, dass jeder selbständige Einzelhändler einen eigenen Online Shop haben muss, eine „Visitenkarte“ im Netz und das Bespielen von sozialen Medien (s.a Artikel Social Media) sind ein guter Anfang. Wenn dann das nächste Kassensystem das angeschafft wird, eine dahinterliegende Warenwirtschaft mit einer Schnittstelle ins Netz zur Darstellung der lokalen Produktverfügbarkeit (s.a.Artikel Google Local Inventory) hat, ist auch der kleinere Händler schon sehr nah am Kunden. Solche Investitionen sind rein finanziell gesehen durchaus überschaubar, erfordern aber durchaus ein Umdenken bei den Anforderungen an den Händler, das Personal und Dienstleister.
Für die Handelsketten ist die Situation da anders. Es reicht eben nicht aus „auch“ einen getrennten Online Shop zu haben, oder am POS einen „smarten“ Spiegel, einen Bildschirm oder einen interaktiven Kiosk aufzuhängen, bzw. zu stellen. Ein wirklich nahtloses Einkaufserlebnis kann der Handel nur bieten, wenn auch alle im Hintergrund laufenden Prozesse digitalisiert und verknüpft sind. Denn was bringen dem Handel digitale Preisschilder am POS wirklich, wenn nicht auch die Chancen von Dynamic Pricing zumindest ausgelotet werden. Alle Marketingaktivitäten verpuffen, stationär wie online, wenn die Warenverfügbarkeit nicht gesichert ist und leere Regale den Kunden angähnen, bzw. Waren nicht schnell lieferbar sind. Multichannel ist eine tolle Option, aber eben besonders wenn die verschiedenen Kanäle in der Supply Chain untereinander verknüpft sind und auf Demand Seite entsprechend gleiche Ansprache und Services bieten.
Wirklichen Service am Kunden kann heute ein Händler nur bieten, wenn als Grundlage alle im Hintergrund laufenden Prozesse, Systeme und Datenbanken digitalisiert, synchronisiert und intelligent verknüpft sind – mit einer Supply Chain, die sich als End- to End Dienstleister, also vom Hersteller bis in die Hände des Kunden versteht und einer Demand Side, die den Kunden entlang der gesamten Shopper Journey kennt und alle Aktivitäten strikt nach Kundenbedürfnissen ausrichtet.
Denn ein Spiegel, der mir Werbung zeigt, mir zeigt wie das Kleid in der Abendsonne aussehen würde, mit dem ich Fotos von mir in meinen sozialen Netzwerken teilen kann, mag nett sein; aber einer, der mir außerdem auf mich zugeschnittene Produktalternativen, Preise, Verfügbarkeiten, Bestell- und Liefermöglichkeit – vielleicht sogar mit einem ganz besonderen Angebot für mich – bietet, hat Relevanz.
Und all das bedeutet Investitionen: In Systeme, Strukturen und in Menschen, die diese entwickeln, einsetzen und nutzen und daher:
„Ja, es darf deutlich mehr sein!“
Über die Studie: Herausgegeben durch Bitkom im Juni 2017. Der Download der Studie ist nicht mehr möglich – einen weiteren Artikel von Heike Scholz findet Ihr hier.
Hinweis zur Methodik: Grundlage der Angaben ist eine Umfrage, die Bitkom Research im Auftrag des Digitalverbands Bitkom durchgeführt hat. Dabei wurden 530 Händler – online wie offline – im Groß- und Einzelhandel befragt, darunter 343 Händler, die sowohl stationär als auch online verkaufen. Die Umfrage ist repräsentativ.
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