Vibe Communities: Atmosphäre statt Mitgliedschaft
Communities gelten im Handel als Ausweg aus schwindender Kundenloyalität. Während KI-Content am Fließband produziert wird, sollen Communities den Zugang zu Kund*innen sichern. Prof. Dr. Nils Andres hat kürzlich eine Studie mit 2.191 Konsument*innen veröffentlicht, die diesen Ansatz grundsätzlich infrage stellt. Seine Untersuchung zeigt: Nicht immer reicht es, eine Community zu gründen. Die Ansprüche der Menschen an Communities haben sich gewandelt.
Von Mitgliedschaft zu Atmosphäre
Klassische Brand Communities funktionieren über langfristige Loyalität und feste Mitgliedschaft. Die Harley Owners Group oder Apple User Groups leben davon, dass Menschen sich dauerhaft mit einer Marke identifizieren. Andres zeigt: Diese Logik verliert an Kraft. An ihre Stelle treten „Vibe Communities“, die durch geteilte Stimmungen und situative Intensität zusammengehalten werden. Zugehörigkeit entsteht nicht durch Mitgliedschaft, sondern durch das Eintreten in eine atmosphärisch gestimmte Situation.
Die Studie identifiziert neun Kriterien, die Vibe Communities prägen:
- Temporalität (Episodizität statt Dauer),
- atmosphärische Kohärenz (Sound, Licht, Raum als Stimmungsträger),
- affektive Synchronisation (emotionaler Gleichklang ohne Regeln),
- Mitgliedschaftsfluidität (offene Zugänge statt Gatekeeping),
- ästhetische Codierung (Style als Zugehörigkeitssignal),
- körperlich-emotionales Erleben (Schwitzen, Tanzen als Bindungsmechanik),
- Ritualisierung (Mikro-Gesten statt fester Organisation),
- mediale Verstärkung (Hashtags verlängern den Moment) und
- performative Partizipation (aktives Gestalten statt passiver Konsum).
Zwei dominante Typen
Die Clusteranalyse zeigt zwei Hauptformen:
- „Vitalitätsorientierte Communities“ (42 Prozent) basieren auf körperlicher Intensität. Hyrox-Wettkämpfe, Urban Running Crews oder CrossFit-Events leben von kollektivem Schwitzen, Flow-Zuständen und synchroner Bewegung.
- „Hedonistisch-ästhetische Communities“ (38 Prozent) setzen auf Genuss und Inszenierung. Streetwear-Drops, Musikfestivals oder Pop-up-Stores funktionieren über visuelle Codes, Stilpraktiken und die Lust am Moment.
- Eine Hybridform (20 Prozent) verbindet beide Logiken: Hyrox ist Wettkampf und Party, Leistung und Spektakel zugleich.
Für Händler*innen bedeutet dies: Sportfachhändler können bei vitalitätsorientierten Communities ansetzen, Modehändler bei hedonistisch-ästhetischen. Der Lebensmitteleinzelhandel hat bei beiden weniger Anknüpfungspunkte, außer über immersive Gastronomie-Konzepte mit Event-Charakter.
Marken als Resonanzverstärker
Die Strukturgleichungsmodelle belegen: Vibe-Intensität erhöht Markenevaluation (β = .31), Weiterempfehlung (β = .33) und situative Kaufabsicht signifikant. Klassische Loyalität bleibt dagegen schwach (β = .08, nicht signifikant). Marken sind nicht mehr Zentrum der Community, sondern „Atmosphärenarchitekten“. Sie kuratieren Räume, in denen Resonanz entstehen kann, ohne den Vibe zu kontrollieren.
Nike bei Sneaker-Drops ist ein Beispiel: Die Marke schafft den Rahmen (Wartezeit, Aufregung, ästhetische Codes), aber der eigentliche Vibe entsteht im affektiven Zusammenspiel der Teilnehmer*innen durch Outfits, Gesten, Instagram-Stories. Die Marke liefert den Code, die Community schafft die Stimmung.
Kosten und Kompetenzen fehlen
Vibe Communities benötigen atmosphärische Kohärenz: Sound, Licht, räumliche Arrangements, ästhetische Details. Das ist kostenintensiv und erfordert Skills, die klassische Händler nicht haben. Event-Design, Community-Management und digitale Kuration sind keine Nebentätigkeiten. Viele Handelsunternehmen verfügen nicht über diese Inhouse-Kompetenz. Ein Modehaus kann nicht einfach eine Running Crew gründen und erwarten, dass daraus Kundenbindung entsteht.
Die Studie zeigt auch: die Crowd-Dichte muss stimmen. Zwischen 300 und 800 Personen entsteht optimale Vibe-Intensität, darüber tritt Affektzerfall ein. Das bedeutet: Vibe Communities sind nicht beliebig skalierbar. Große Filialisten wie Rewe oder H&M stehen vor der Wahl: viele kleine Events (teuer) oder doch eher Verzicht auf diesen Ansatz.
Wer profitiert konkret?
Die Generationenfrage ist zentral. Die Stichprobe konzentriert sich auf 20- bis 35-Jährige in urbanen Milieus. Das sind nicht die Hauptkunden vieler stationärer Händler außerhalb von Großstädten. Ein Familienunternehmen in der Provinz kann mit Vibe Communities wenig anfangen. Die geografische und demografische Passung muss gegeben sein.
Sportfachhändler mit urbaner Lage können Running Crews oder Fitness-Events kuratieren. Modehändler mit junger Zielgruppe profitieren von Drop-Kulturen. Lebensmittelhändler könnten immersive Food-Events gestalten, aber die Investition ist hoch und die Übertragbarkeit auf den Filialverkauf unklar. Der Großteil des Handels steht damit vor der Frage: Ist dieser Weg überhaupt gangbar, oder bleibt es eine Nischenstrategie für ausgewählte Formate?
Authentizität als harte Nebenbedingung
Die Studie warnt explizit: Über-kuratierte Settings dämpfen Authentizität. Wenn ein Modehaus eine Running Crew gründet, nur um Sportbekleidung zu verkaufen, wird das als unecht wahrgenommen und zerstört den Vibe. Die qualitative Analyse zeigt: Teilnehmer*innen erkennen sofort, ob eine Marke den Vibe respektiert oder instrumentalisiert. Algorithmus-Überdruss und Vibe-Müdigkeit entstehen, wenn Marken zu stark steuern.
Das Risiko der Kontrolllosigkeit kommt hinzu. Vibe Communities definieren ihre Codes selbst. Marken haben nur begrenzten Einfluss auf die Entwicklung. Ein Hashtag kann viral gehen oder untergehen. Diese Abhängigkeit von Plattform-Algorithmen und Community-Dynamiken ist ein strategisches Risiko, das klassische CRM-Logiken nicht kennen.
CRM-Logik funktioniert nicht
Viele Händler investieren in CRM-Systeme für Kundenbindung. Die Studie zeigt: Das funktioniert bei Vibe Communities nicht. Dort gibt es keine Mitgliedschaft, keine E-Mail-Liste, keine Treuepunkte. Das ist ein Paradigmenwechsel von CRM-Logik (Daten, Segmente, Loyalität) zu Resonanz-Logik (Atmosphäre, Affekt, Episoden). Die beiden Ansätze sind nicht kompatibel. Händler müssen sich entscheiden, welche Logik sie für welche Zielgruppe verfolgen.
Ein weiterer Punkt: Vibe Communities erzeugen keine dauerhafte Loyalität. Die Bindung ist situativ. Das bedeutet: Return on Investment lässt sich nicht über Customer Lifetime Value berechnen, sondern muss über Event Impact Value gemessen werden. Was kostet ein Hyrox-Sponsoring, und was bringt es an Weiterempfehlung und situativer Kaufabsicht? Diese Rechnung sieht anders aus als klassische Loyalitätsprogramme.
KI-Content und körperliche Momente
Die Diskussion über Communities als Ausweg aus schwindender Loyalität ignoriert eine Spannung: KI kann Content commodifizieren, aber Atmosphären nicht authentisch kuratieren. Gerade weil KI-Inhalte heute am Fließband produziert werden, werden menschlich kuratierte, körperlich erlebte Momente zur Differenzierung. Aber diese lassen sich nicht automatisieren. Der Aufwand steigt, während die Skalierbarkeit sinkt.
Die mediale Verstärkung über Instagram und TikTok ist konstitutiv für Vibe Communities. Ohne digitale Verlängerung bleiben sie lokal begrenzt. Das bedeutet: Händler werden abhängig von Plattformen, deren Algorithmen sie nicht kontrollieren. Ein Hashtag funktioniert heute, morgen nicht. Diese Volatilität ist das Gegenteil von strategischer Planbarkeit.
Die Studie zeigt eine unbequeme Wahrheit: Communities sind kein einfacher Ausweg aus der Loyalitätskrise. Vibe Communities funktionieren nach eigenen Regeln, die viele Handelsunternehmen weder verstehen noch operativ umsetzen können. Sie sind teuer, komplex, nicht skalierbar und erzeugen keine dauerhafte Bindung. Für urbane Spezialisten mit junger Zielgruppe können sie funktionieren, für den Großteil des Handels bleiben sie eine Illusion.
Wer jetzt reflexartig auf Communities setzt, ohne die strukturellen Bedingungen zu prüfen, riskiert teure Fehlschläge. Die eigentliche Frage lautet nicht, ob man eine Community gründet, sondern ob man die Ressourcen, die Kompetenz und die Zielgruppe hat, um Atmosphären zu kuratieren, die Menschen freiwillig betreten und performativ mitgestalten wollen.
Die Studie kann hier ausführlich und kostenfrei nachgelesen werden.
Foto von William White auf Unsplash











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